Blog
Gedanken und Erfahrungen von einer, die fand, Religion sei nur etwas für schlichtere Gemüter - und dann
zum Islam konvertierte. Ausgerechnet ...
Long Covid – ein “Desabafo”
Seit langem schreibe ich wieder einmal einen Blogartikel. Über Long Covid. Ausgerechnet. Offenbar brauche ich nämlich einen abschließenden „Desabafo“, wie wir auf Portugiesisch sagen und damit eine Mischung aus „Dampf ablassen“ und „Herz ausschütten“ meinen (Google übersetzt „entlüften“ 😂). Ich habe nämlich vor, euch zu erzählen, wie es mir mit diesem blöden Long- oder Post-Covid so geht. Möglicherweise findet sich ja der eine oder die andere LeserIn in dem Artikel wieder und fühlt sich mit den Symptomen etwas weniger allein. Und nicht Betroffene könnten nach der Lektüre vielleicht ein wenig mehr Verständnis für uns aufbringen und nicht mit Sprüchen wie „naja, ich bin auch gestresst“ kommen*. Und Corona-Verharmloser könnten eventuell ihre Meinung nochmal überdenken.
Verlauf
Mitte Mai war ich positiv, hatte zwei/drei Tage einen mittleren, ansonsten leichten Verlauf, wohl dank Impfung und Booster. Nach 12 Tagen war ich endlich wieder negativ, dann folgte eine Woche, in der ich mich ziemlich „normal“ fühlte – dann begannen die Langzeitwirkungen.
Und jetzt hat mich Long Covid in den Klauen. Außer der Beeinträchtigung von Geruchs- und Geschmackssinn habe ich praktisch alle gängigen Symptome. Bin fast über Nacht um Jahre gealtert und gefühlt mindestens 100 kg schwerer geworden. Die Auswirkungen aller bereits zuvor vorhandenen Zipperlein – und im Laufe der Jahre haben sich da schon so einige zusammengefunden, immerhin werde ich dieses Jahr 70 – haben sich verdoppelt und verdreifacht, und es sind neue dazu gekommen, und manche scheinen sich viel zu schnell auszuweiten. Beim Aufstehen tun alle Muskeln und Knochen weh. Selbst An- oder Ausziehen sind Kraftakte, nach denen ich total erschöpft bin und mich schnaufend hinsetzen muss. Kleine Garten- und Hausarbeiten sind über die Maßen anstrengend. Ich bin fahrig, vergesslich und gereizt, empfindlich, unkonzentriert, manchmal sogar verwirrt. Wenn was nicht geht, wie es soll, werde ich wütend, auch bei Kleinigkeiten. Hab keine Lust auf Gesellschaft, werde am liebsten in Ruhe gelassen. Den sonst obligaten Fotoapparat nehme ich auf meine auf 10 Minuten gekürzten (mehr schaffe ich nicht) Hunderunden schon gar nicht mehr mit – ich achte kaum auf die Umgebung. Die nehme ich gar nicht wie sonst wahr, eher so wie durch eine leicht getönte Scheibe. Kurz: Ich kenne mich kaum wieder.
Was mich bedrückt ist, dass ich mich plötzlich unter den Jammerern wiederfinde. Ich, die ich selbst in meinen schlimmsten Zuständen immer positiv denken konnte. Mich gerade in schwierigen Zeiten immer mit Menschen verglich, denen es schlechter ging und froh und dankbar war, besser dran zu sein. Sogar als ich als junge Frau mit der Aussicht auf ein Leben im Rollstuhl im Paraplegikerzentrum lag, war ich meist guter Dinge und froh, dass ich „nur“ ab dem 12. Brustwirbel gelähmt bleiben würde, wo doch neben mir Patienten lagen, die einen Halswirbel gebrochen hatten! Ich würde halt nun vermutlich vier Räder haben statt zwei Beinen (was sich später nicht bewahrheitete – ich laufe immer noch auf zweien, al-hamdu-liLlah) wogegen die bedauernswerten Zimmergenossen nicht mal aus eigener Kraft eine Seite im Buch umblättern konnten.
Aufs und Abs
Zwischendurch und wenn ich nichts tue, geht es mir ganz gut! Ich kann bspw. problemlos eine Weile am PC arbeiten. Solange ich sitze oder liege und mich ansonsten nicht bewege, fühle ich mich ok, höchstens ein wenig kurzatmig. Bin nur müde und schlafe die ganze Zeit ein und habe null Bock, aufzustehen. Aber es tut nichts weh. Dann kommen Gedanken auf wie: „Nimm dich mal zusammen, du bl. K. – stell dich nicht so an. Bist nur faul. Du könntest schon, wenn du nur wolltest.“ Und wenn ich’s dann in einer guten Phase tue und mich z. B. aufraffe, eine etwas aufwändigere Arbeit zu erledigen, oder ein paar Minuten auf dem Minitrampolin zu wippen, oder zu schwimmen, oder den Spaziergang mit Joey doch etwas länger zu gestalten, bezahl ich am Abend oder am nächsten Tag dafür, fühle mich dann noch schwerer und erschöpfter, der Druck auf der Brust ist intensiver, die Schmerzen stärker und im schlimmsten Fall kommen neue dazu.
Aber: Es ist alles ist nicht sooo schlimm! Es ist auszuhalten, meist ohne Schmerzmittel! Ich funktioniere. Ich schaffe, was unbedingt getan werden muss. Ruhe mich einfach nach jeder Tätigkeit aus und mache nur das absolute Minimum. Wenn man mich sieht, merkt man mir kaum etwas an.
Am schlimmsten ist, dass mich dieser Zustand so voll und ganz einnimmt. Dass ich nicht wie sonst in der Lage bin, mich durch positives Denken, durch Gebete, durch das Wissen, dass es mir doch im Vergleich zu Millionen anderen Menschen immer noch seeeeeehr gut geht, psychisch auf einem normalen Level zu behalten. Obwohl ich als Muslim doch weiß, dass alles, was Gott mir gibt, am Ende auf irgendeine Weise gut für mich ist/sein wird – ob hier oder drüben – und ich dankbar sein sollte. Stattdessen kreisen meine Gedanken um die Krankheit und ich habe ständig das Gefühl, meinen Zustand erklären, mich dafür rechtfertigen, darüber reden (jetzt sogar schreiben) zu müssen. Um mich dann wieder dafür zu schämen – gegenüber all denen, denen es viel schlechter geht.
Ich habe meine Leute schon gebeten, am besten nicht zu fragen, wie es mir geht. Zu antworten „gut“ wäre gelogen, aber ich will doch auch nicht die ganze Zeit lamentieren. Ich bin ja nicht auf der Jagd nach Mitleid! Ich möchte nur, dass man versteht, dass ich im Moment tatsächlich eingeschränkt und wenig belastbar und wenig gesellig bin – aber natürlich nicht schwerkrank! Und dann möchte ich die Krankheit endlich in den Hintergrund verbannen, die Einschränkungen akzeptieren und damit so normal wie möglich leben und hoffen, dass diese Covid Nachwirkungen nicht mehr allzu long dauern.
InschaAllah klappt es ja jetzt mit diesem Artikel, einen Schlussstrich zu ziehen: Also, ihr Lieben, fragt nicht mehr nach, ich gebe euch Bescheid, wenn‘s vorbei ist.
Erfahrungen von LeidensgenossInnen und Tipps zum Umgang mit dem Phänomen sind natürlich in den Kommentaren herzlich willkommen!
PS: Ein paar Worte speziell zu meinen muslimischen LeserInnen: Ihr könnt euch sicher vorstellen, dass diese ganze Situation auch nicht gerade förderlich ist für den Iman. So viele Vergesslichkeitsniederwerfungen wie jetzt habe ich noch nie machen müssen – manchmal komme ich sogar in einem 2-Rakah-Gebet durcheinander und habe plötzlich keine Ahnung mehr, ob ich erst ein oder schon zwei Rakah gebetet habe, und ob und was ich dabei rezitiert habe. Furchtbar. Sunna-Gebete sind durch die körperlichen Einschränkungen reduziert. Sowohl Wudu als auch die Gebete selbst sind sehr anstrengend. Und die psychischen Einschränkungen bewirken, dass mein ganzer Glaube und meine Bittgebete und Dhikr im Moment mehr Kopfsache sind. Ich fühle sie nicht so recht. Als ob das Taubheitsgefühl nicht nur Füße und Beine, sondern auch mein Herz befallen hätte.
PPS: Drei Dinge habe ich immerhin schon gelernt: Erstens, wie sich meine 87-jährige Freundin mit ihren ganzen Gebrechen so fühlen dürfte, und zweitens, wie es ist, eine unsichtbare Krankheit zu haben. Und drittens, auch mal „Nein“ zu sagen, wenn es mir zu viel wird.
PPPS: Das Beitragsbild stammt von dieser Seite: https://www.mdr.de/brisant/long-covid-symptome-112.html
PPPPS: Seit gestern kam zu all meinen Wehwehchen noch eine äußerst schmerzhafte Nackenstarre dazu. So langsam reicht es.
* ich bin mir durchaus bewusst, dass auch ich öfter so reagiert habe. Wofür ich mich hiermit entschuldige und Besserung gelobe. InschaAllah. (Ich habe also eigentlich nicht drei, sondern vier Dinge gelernt. Alhamdulillah.)
Leave a Reply